* 12 *
Septimus hörte laute Stimmen, als er sich dem Nordtor näherte.
»Du kannst mich nicht aufhalten, Vater!«, schrie Lucy Gringe. »Du kannst mich nicht mehr da oben einsperren. Ich bin kein Kind mehr. Wenn ich Simon nachlaufen will, dann tue ich es auch. Und damit basta!«
»Nur über meine Leiche!«, ertönte Gringes tiefes Knurren.
»Aber gern!«
»Hört auf damit. Bitte!«, schrie Mrs. Gringe. »Lucy will doch nicht ernsthaft weglaufen, habe ich Recht, mein Liebes?«
»Aber natürlich will ich, Mutter. Und zwar sofort!«
»Das wirst du nicht«, brüllte Gringe.
»Werde ich doch!«
»Wirst du nicht!«
Septimus traf gerade noch rechtzeitig am Nordtor ein, um zu sehen, wie Gringe ins Torhaus stürmte. Sekunden später ertönte ein lautes Rasseln, und die dicken Ketten der Zugbrücke krochen langsam über die großen Zahnräder am Boden. Gringe zog die Zugbrücke hoch.
Lucy kannte das Geräusch gut. Sie hatte es ihr Leben lang bei jedem Sonnenauf- und -untergang gehört. Septimus sah, wie sie einen Bogen um ihre Mutter schlug – eine kleine, aber sportlich aussehende Frau, die ihrem Mann erstaunlich ähnlich sah – und in Richtung Brücke rannte.
»Halt!«, rief Mrs. Gringe und lief ihrer Tochter nach. »Bleib stehen, du wirst dich noch umbringen!«
»Was schert euch das!«, schrie Lucy und lief mit wehenden Zöpfen auf die langsam sich hebende Zugbrücke, offensichtlich in der Absicht, über den immer breiter werdenden Spalt zwischen Brücke und gegenüberliegendem Ufer zu springen. Mrs. Gringe rannte ihr hinterher. Plötzlich vollführte sie einen gekonnten Hechtsprung, und Lucy schlug der Länge nach auf die dicken Bohlen der Brücke.
Drinnen im Torhaus übertönte das ohrenbetäubende Klirren der Ketten alle Geräusche des Dramas, das sich draußen abspielte. Mit verzerrtem Gesicht kurbelte Gringe weiter die Brücke hoch, nicht ahnend, dass seine Frau und seine Tochter jetzt erbittert miteinander rangen. Lucy versuchte, zum Ende der Brücke zu kriechen, doch mit jeder Sekunde wurde die Neigung steiler und bald war sie so steil, dass Lucy nicht mehr weiter konnte. Sie klammerte sich an einen im Holz verankerten Eisenring, und Mrs. Gringe hing wie eine Klette an ihrem linken Fuß.
Im Torhaus wuchtete der heftig schwitzende Gringe die Ketten noch einmal um eine ganze Umdrehung weiter, und die Zugbrücke hob sich abermals ein Stück. Sie ragte jetzt in den Himmel. Plötzlich konnte sich Lucy nicht mehr festhalten. Sie ließ den Ring los und rutschte zusammen mit ihrer Mutter die beinahe senkrechte Schräge hinunter. Und im selben Augenblick, als die beiden hart aufs Kopfsteinpflaster schlugen, schloss sich die Zugbrücke mit einem lauten Knall, der die Erde erzittern ließ. Gringe, erschöpft von der Anstrengung, sank zu Boden und nahm sich vor, künftig netter zu dem Brückenjungen zu sein, der normalerweise die Brücke hochkurbelte. Er selbst wollte das so bald nicht wieder tun.
Septimus schlich sich fort. Er konnte nicht warten, bis die Gringes ihren Streit beigelegt hatten und die Brücke wieder herunterließen. Er beschloss, zu Jannit Maartens Bootswerft hinunterzulaufen. Jannit betrieb am Burggraben einen Fährdienst und konnte ihn ans andere Ufer übersetzen, wenn sie zufällig da war. Er musste es darauf ankommen lassen.
Eine halbe Stunde später hatte er den Tunnel erreicht, der unter der Burgmauer hindurch zu Jannit Maartens Bootswerft führte. Die Werft lag an einem Kai, gleich hinter der Mauer. Septimus ging durch den feuchten tropfenden Tunnel und gelangte bald auf einen sonnenüberfluteten Platz, auf dem kreuz und quer die unterschiedlichsten Boote lagen. Im ersten Moment dachte er, es sei niemand da, doch als er sich zwischen Segeln, Tauen, Ankern und einer Unmenge von Bootsbauwerkzeugen vorsichtig einen Weg bahnte, vernahm er Stimmen vom Rand des Wassergrabens. Er schlug die Richtung ein, aus der sie kamen.
»Sep! He, Sep! Was machst du denn hier?«, rief eine Stimme, die Septimus gut kannte. Sie gehörte seinem Bruder Nicko.
Nicko Heap, der die unverwechselbare grüne Lehrlingskluft im Durcheinander der Werft bemerkt hatte, stand im Bug eines langen schmalen Bootes. Er war etwas größer als Septimus und viel kräftiger gebaut. Und im Unterschied zu seinem Bruder, der vom wochenlangen Aufenthalt im Zaubererturm ganz blass war, hatte er ein braungebranntes, wettergegerbtes Gesicht. Seine langen blonden Locken waren mit Meersalz verklebt und vom Wind zerzaust. Außerdem hatte er sich knallbunte kleine Zöpfe ins Haar geflochten. Solche Zöpfe waren bei den jungen Bootsführern in Port in diesem Sommer groß in Mode, und in seiner Begeisterung für die Zöpfe hatte sich Nicko gleich eine Sammlung passender Armbänder gekauft. Wie Septimus und alle anderen Heaps hatte er die tiefgrünen Augen, die alle Zaubererkinder beim ersten Kontakt mit Magie bekommen. Nicko hatte zwar nie Zauberer werden wollen, aber für den Notfall hatte er ein paar Zauber auf Lager. Wie alle jungen Heaps mit Ausnahme von Septimus hatte er als Kind von seinen Eltern Zauberunterricht erhalten.
Neben Nicko stand ein großer junger Mann mit hellroter Igelfrisur und mürrischem Gesicht. Septimus kannte ihn. Es war Rupert Gringe, Lucys Bruder. Jannit Maarten, die Bootsbauerin, stand auf dem Werftponton und vertäute gerade das Boot.
»Nicko, du bist zurück!«, rief Septimus fröhlich, hüpfte über einen Stapel Planken und ein paar alte Eimer und lief zu seinem Bruder. Er war froh und erleichtert, ihn zu sehen. Nicko würde die Sache mit Jenna bestimmt verstehen. Jannit Maarten schenkte Septimus ein Lächeln. Sie mochte alle Heaps. Nicko arbeitete seit kurzem mit ihr und Rupert zusammen auf der Werft, und sie war von ihm sehr angetan.
Jannit war eine kleine, kräftig aussehende Frau in einem schmutzigen blauen Kittel. Sie hatte ein freundliches, von Furchen durchzogenes nussbraunes Gesicht, und ihr graues Haar war zu einem langen dünnen Pferdeschwanz gebunden, der ihr nach Matrosenart auf den Rücken fiel. Sie war mit Leib und Seele Bootsbauerin. Sie schlief in einer kleinen baufälligen Hütte am Eingang der Werft.
In der Burg gab es zwar auch andere Bootsbauer, aber Jannit war die Beste. Sie hatte Rupert Gringe als Lehrling eingestellt, als er gerade elf geworden war, und das, so erzählte sie jedem, der es hören wollte, sei das Beste gewesen, was sie jemals getan habe. Rupert war ein begnadeter Bootsbauer. Er hatte einen Blick für die Linie eines Bootes und ein Gespür dafür, wie jedes Fahrzeug, das er baute, im Wasser liegen und sich im Wind verhalten würde.
Mit Nicko war Jannit beinahe genauso zufrieden. Als Erstes hatte sie ihn damit betraut, Rupert beim Bau der neuen Muriel für Sally Mullin zu helfen, die ihr heißgeliebtes Boot im Jahr zuvor den Heaps für ihre Flucht zur Verfügung gestellt hatte, und sie konnte sehen, dass er ein gutes Auge und geschickte Hände hatte.
Zudem war Nicko ein geborener Seemann, und ein noch besserer als Rupert Gringe. Deshalb war es auch Nicko, an den Jannit, sehr zum Ärger Ruperts, die Frage richtete: »Wie liegt das Boot im Wasser?«
»Wie eine bleierne Ente«, knurrte Rupert, bevor Nicko ein Wort sagen konnte.
Jannit machte ein langes Gesicht. Das Boot lag ihr sehr am Herzen, aber in dem Projekt war von Anfang an der Wurm drin. Sie sah zu Nicko, um seine Meinung zu hören.
»Nicht gut, Jannit«, gab er zu. »Wir sind zweimal gekentert. Außerdem ist der Mast gebrochen. Wir mussten ihn unten in Port reparieren.«
»War es so schlimm?«, fragte Jannit. »Ich muss mein Gespür verloren haben.«
»Nein, woher denn«, erwiderte Rupert. »Das sind nur Kinderkrankheiten. Die kriegen wir in den Griff.«
»Na dann«, seufzte Jannit. »Aber ihr wollt jetzt bestimmt nach Hause zu euren Familien. Geht nur, Jungs, ich mache hier klar Schiff.«
»In Ordnung, Jannit«, sagte Rupert. »Dann verschwinde ich jetzt. Nach der langen Fahrt auf dem knarrenden, ächzenden Boot freue ich mich auf etwas Ruhe und Beschaulichkeit.«
»Äh, Rupert«, begann Septimus, der das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen, »im Moment ist es im Torhaus nicht gerade ... äh ... ruhig und beschaulich. Es hat Ärger gegeben.«
Rupert sah ihn misstrauisch an. Er hatte den Argwohn seines Vaters gegen die Heaps geerbt, und obwohl er zugeben musste, dass Nicko Heap kein übler Bursche war, wusste er nicht so recht, was er von dem verschrobenen Zauberlehrling halten sollte, der sich mit seiner schmucken grünen Tracht und seinem schicken Lehrlingsgürtel herausgeputzt hatte.
»Ach ja?«, fragte er zögernd. »Was für Ärger?«
»Nun ja, Simon ...«
»Ich wusste es!«, platzte Rupert heraus. »Ich wusste sofort, dass euer verflixter Bruder dahintersteckt! Diesmal kriege ich ihn. Ganz bestimmt!«
»Er ist ...«
Rupert Gringe flitzte über die Werft davon.
»... nicht mehr da«, beendete Septimus halbherzig seinen Satz, während Rupert über einen Eimer stolperte und schneller im Tunnel verschwand, als er erwartet hatte.
»Wo drückt der Schuh, Sep?«, fragte Nicko, der seinem jüngeren Bruder ansah, dass etwas nicht stimmte.
»Simon hat Jenna entführt, und niemand will mir glauben, nicht einmal Marcia«, sprudelte Septimus los.
»Was?«
»Simon hat Jenna entführt und ...«
»Schon gut, Sep, ich habe gehört, was du gesagt hast. Komm, setz dich und erzähl mir alles der Reihe nach.« Nicko kletterte an Land und legte Septimus den Arm um die Schulter. Sie setzten sich zusammen hin, ließen die Füße in den Burggraben baumeln, und Septimus erzählte die ganze Geschichte. Je länger er sprach, desto besorgter wurde Nickos Miene.
Schließlich kam Septimus zum Ende und schloss mit den Worten: »... aber ich wette, du glaubst mir auch nicht.«
»Natürlich glaube ich dir.«
»Ehrlich?« Septimus sah Nicko fragend an.
»Ja. Ich weiß, dass gewisse Leute hinter Jenna her sind. Ich wollte Mum raten, vorsichtiger zu sein. Aber wie es aussieht, komme ich zu spät.«
»Wen meinst du denn mit gewisse Leute}«, fragte Septimus. »Soll das heißen, nicht nur Simon?«
»Nun ja, vielleicht macht Simon mit ihnen gemeinsame Sache. Überraschen würde es mich nicht. Als Rupert und ich unten in Port auf den neuen Mast warteten – da fällt mir ein, dass ich Jannit noch sagen muss, dass der neue nichts taugt und keine fünf Minuten halten wird –, da saßen wir ziemlich lange im Blauen Anker, einer Hafenschenke. Dort verkehren die unterschiedlichsten Leute. Wir trafen auch Alice Nettles, Althers Freundin von früher. Sie arbeitet jetzt im Zollamt...«
»Ja und?«, unterbrach ihn Septimus ungeduldig, der sich fragte, worauf Nicko mit seiner weitschweifigen Einleitung hinauswollte.
»Alice erzählte uns, dass jemand in Port nach Jenna sucht.«
»Wer?«
»Keine Ahnung. Ein geheimnisvoller Fremder, wie Alice ihn nannte. Kürzlich erst aus den Fremdlanden gekommen. Sein Schiff ankerte noch draußen vor der Küste und wartete auf einen Liegeplatz am Zollkai, doch er selbst hatte sich an Land rudern lassen und stellte alle möglichen Fragen über die Prinzessin.«
»Was für Fragen?«, wollte Septimus wissen.
»Na, das kannst du dir doch denken. Ob sie noch am Leben sei. Wo sie zu finden sei. Solche Sachen eben. Alice hat ihm ausweichende Antworten gegeben. Darauf versteht sie sich.«
Septimus starrte in das trübe Wasser des Burggrabens. »So ist das also«, sagte er bedrückt. »Ich wette, Simon bringt Jenna zu dem geheimnisvollen Fremden.«
»Wahrscheinlich hat er Simon fürstlich dafür bezahlt«, sagte Nicko, der keine gute Meinung von seinem ältesten Bruder hatte.
»Und ich kann mir auch denken, wer dieser Fremde ist ...«
»So?«, fragte Nicko überrascht. »Wer denn?«
»DomDaniel«, flüsterte Septimus.
»Aber der ist doch tot.«
»Er ist verschwunden. In den Marschen in die Tiefe gezogen worden. Aber das heißt nicht unbedingt, dass er tot ist. Soviel ich weiß, lebt er gerne unter der Erde.«
»Also, ich weiß nicht, Sep«, sagte Nicko. »Nicht einmal Simon würde so etwas tun, oder?«
Septimus sah Nicko fest in die Augen. »Hör mal, Nicko, niemand will mir glauben, dass Jenna in Gefahr ist, also erwarte ich es auch nicht von dir. Aber es ist mir egal, was die anderen sagen. Ich gehe jetzt los und hole sie zurück.« Er stand auf und schulterte seinen Rucksack. »Sag Marcia, wo ich hin bin. Und unseren Eltern. Bis dann.« Damit wandte er sich zum Gehen.
»So warte doch, du Blödmann«, protestierte Nicko. »Ich glaube dir ja. Und du wirst nicht auf eigene Faust losziehen, Sep. Wo willst du sie denn suchen?«
»Ich werde sie schon finden«, erwiderte Septimus.
»Fragt sich nur, wann. Wenn überhaupt. Ich kenne einen guten Fährtenleser. Der beste, der mir je begegnet ist. Er wird uns zu ihr führen. Ich lasse mir von Jannit ein Boot geben, und damit holen wir ihn ab. Nimm den Rucksack ab und setz dich wieder hin.«
Septimus rührte sich nicht.
»Mach schon, Sep. Ich bin dein großer Bruder und sage dir, was du zu tun hast. Klar?«
»So viel größer bist du gar nicht«, murrte Septimus, setzte sich aber trotzdem wieder hin.